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Manchmal glaube ich, Kreative und Kreativität sind Saisonware. Immer wenn sich Wirtschaft oder Politik in eine Sackgasse manövriert haben, wird nach „kreativen Lösungen“ geschrien.
Je nach Konjunkturlage rangieren „Kreative“ auf der Wertschätzungsskala von belächelten Spinnern bis zu Heilsbringern der Zukunft.

Ich gehöre mit meiner Arbeit zur Kreativwirtschaft. Doch in so einer Stimmung frage ich mich immer: Was ist eigentlich eine ‚Kreative‘ bzw. ein ‚Kreativer‘?

Die christliche und jüdische Schöpfungserzählung sagt, Gott habe den Menschen nach seinem Bilde erschaffen (1.Mose 1, 27). Ich finde das Verb „erschaffen“ wichtig, denn seine lateinische Übersetzung lautet „creavit“.

Kreativität ist folglich die Fähigkeit, etwas zu erschaffen. Sie ist ein göttliches Geschenk an uns Menschen und von der Antike bis ins Mittelalter galt: In unserer Kreativität kommen wir Menschen in Berührung mit der göttlichen Kraft, aus der wir hervorgegangen sind.

Entsprechend ehrfurchtsvoll wurde das Thema behandelt.

Every creative act is a prayer

Jeff Goins

Kreativität gehört zum Kern von uns Menschen, denn sie hebt uns aus anderen Spezies hervor.Vor allem ist das göttliche Geschenk der Kreativität allen Menschen gegeben.

Wir alle sind Kreative, wir leben es nur in unterschiedlicher Intensität.

Kreative: göttlich, aber nicht systemrelevant

Der Respekt vor dem Göttlichen der Kreativität ist im Laufe der Zeit allerdings abhandengekommen. Ich habe den Eindruck, in unserer Business-Mentalität werden Kreativität und Kreative eher herablassend beäugt, obwohl man sie an allen Bereichen des Alltagslebens braucht und nutzt.

Ohne Kreativität und Kreativschaffende käme keine Musik aus dem Radio. Der smarte Kaffee-Vollautomat hätte keine Bedienoberfläche für den Bezug des morgendlichen Espressos. Wir hätten keine Kleidung, keine Zeitung – aber wer denkt schon daran?

Erst seit unsere komfortable westliche Welt von Umbruch und Unsicherheit gepeinigt wird, ist diese göttliche Gabe zum Wirtschaftsfaktor geworden. Kreativität wird in Krisenzeiten wertvoll. Wertgeschätzt wird sie allerdings nur, wenn sie ökonomisch nutzbar ist.

Systemrelevant ist diese göttliche Gabe nicht, wie wir in Covid gelernt haben. Wenn wir nicht aufpassen, gehen wir als Menschheit demnächst auf einen steilen Sinkflug.

Die Höhlenmenschen hatten mehr von Kreativität begriffen als wir

Die Bedeutung der Kreativität als gottgegebene menschliche Gabe ist mir in einer Höhle bewusst geworden. Die Höhlen von Altamira sind berühmt für ihre steinzeitliche Höhlenmalerei. Vor rund 15.000 Jahren haben Menschen hier ein riesiges Deckengemälde mit über 900 Bildern von Tieren hinterlassen. Altamira gilt als die sixtinische Kapelle der Altsteinzeit.

Ich dachte bis dahin, der simple Stil der Höhlenmalereien sei durch den noch niedrigen technischen Entwicklungsgrad der damaligen Zeit bedingt. In Altamira habe ich jedoch gelernt, dass die Künstler ihre Bilder in Stil und Umsetzung sehr genau auf die Topografie und Oberflächenstruktur der Malstelle abgestimmt haben. Ihre Reduziertheit und ihr Abstraktionsgrad waren kein Zufall, sondern eine gezielte künstlerische Gestaltung.

Die Malereien in Altamira vermitteln eine Klarheit, Intensität und Kraft, für die Studenten an Kunstakademien jahrelang lernen, bis sie diese erreicht haben. Sie lassen einen vor Ehrfurcht verstummen.

„The cave of Altamaria is the maximum representation of human creative spirit.“

– Museo de Altamira

Die Menschen damals hatten nur eine einfache Sprache, noch keine Schrift und nichts, was wir heutzutage als bedeutsam oder zivilisiert bezeichnen würden.

Sie hatten noch kein Konzept von Wertschöpfungsketten oder Effizienz. Auf Maslow’s Bedürfnispyramide hockten sie ganz unten und die durchschnittliche Lebenserwartung lag bei 20 Jahren.

Die elementarsten Bedürfnisse nach Nahrung, Wärme und Schutz waren gerade so gedeckt. Aber es gab noch nicht einmal eine anständige Tür vor dem Höhlenloch, um den Säbelzahntiger draußen zu halten.

Man sollte denken, dass die Menschen in der Altsteinzeit Dringenderes zu tun hatten, als ihrer Kreativität Lauf zu lassen.

Stattdessen haben sie diese großartigen Kunstwerke geschaffen, die seit 15.000 Jahren überdauern.

Aber wir halten Kreativität, Kunst und Kultur ernsthaft für nicht systemrelevant?

Beispiel Renaissance: An wen erinnern wir uns? Die Kreativen.

Denken wir mal an die Renaissance. In diesem Zeitalter ging es technisch, wirtschaftlich und politisch durch die Decke. Eine Pandemie gab es damals auch, sie hieß Pest, und Kriege waren allgegenwärtig.

Wer kommt den meisten von uns beim Stichwort Renaissance in den Sinn?

Der legendäre Unternehmer Jakob Fugger? Die politischen Strippenzieher aus dem Clan der Medici?

Nein, es sind die Kreativen: da Vinci, Michelangelo, Brunelleschi, Raffael und ihre vielen Kolleginnen und Kollegen.

Sie haben die damalige Welt der Kunst, Architektur, Wissenschaft und des Ingenieurwesens revolutioniert. Oft nicht nur dank, sondern trotz der Umstände in denen sie arbeiteten.

Sie haben Wissen, Intelligenz und Kreativität kombiniert und angewendet, um daraus Neues zu erschaffen. Sie haben Prinzipien und Erkenntnisse entwickelt, die bis heute Gültigkeit haben und als Vorbild dienen.

Filippo Brunelleschi hat mit dem Dom von Florenz ein so gewaltiges Kunstwerk erschaffen, dass wir uns 600 Jahre später noch staunend die Hälse verrenken.

– Foto von Sarah Elizabeth auf Unsplash (Link)

Ich habe noch nie jemanden getroffen, der als Reisewunsch sagte: „Ich möchte die Kontobücher von Jakob Fugger sehen.“ (Alle Augsburger mögen mir diesen Satz verzeihen). Jedes Jahr reisen allerdings Millionen von Menschen nach Italien, um Filippo Brunelleschis Dom von Florenz, Leonardo da Vincis Abendmahl oder Michelangelos David zu sehen.
Allein sechs Millionen Besucher besichtigen pro Jahr die Fresken der Sixtinischen Kapelle.

Kreativität: menschlich, göttlich, ewig

Seit der Altsteinzeit haben Menschen die Göttlichkeit der Kreativität in Stein, Farbe und Form gefasst. Es sind diese Werke, die seit Jahrhunderten Krieg, Krankheit und Krisen überdauern und die Menschheit berühren.

Kreativität ist deshalb weit mehr als ein Wirtschaftsfaktor und mehr als eine Kompetenz, mit der man den Lebenslauf schmückt. Sie ist die Verbindung zu unserer schöpferischen, göttlichen Herkunft.

Kreativität gestaltet unser Menschsein und entscheidet darüber, welche Spuren wir auf der Welt hinterlassen.

Wir alle sind Kreative.