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In Krisenzeiten geht der Fokus schnell auf vermeintlich wichtige Dinge: Ausreichende Versorgung mit materiellen und monetären Ressourcen, physische Sicherheit, soziale Stabilität, Schutz, Gesundheit etc.
Mit Ausbruch der Corona-Pandemie war zudem viel von Systemrelevanz die Rede. Welche Branchen halten die Welt am Laufen? Welche Berufsgruppen sind relevant und notwendig in Krisenzeiten?

Wer in all den Diskussionen so gut wie nie vorkam, war die Kultur- und Kreativwirtschaft. Hier klafft eine riesige Lücke in der Wahrnehmung und es ist an uns, diese zu füllen.

Wenn wir auf Ereignisse wie Corona, oder den Krieg in der Ukraine schauen, können uns Zweifel kommen: Können wir in der Kreativwirtschaft relevanten Mehrwert leisten, wenn die Welt in Schieflage gerät? Was können wir überhaupt tun, wenn Menschen von einer Pandemie bedroht werden oder die Welt an der Schwelle eines neuen Weltkriegs zu taumeln scheint?

Der Wert und die Wirkung unserer Arbeit zeigt sich oft im Verborgenen. Die meisten von uns generieren selten Schlagzeilen oder „Wow“-Momente. Nur ein kleiner Teil der Kreativwirtschaft ist auf öffentlichen Bühnen und Plattformen sichtbar. Die meisten von uns sind stille Akteure. Da rutscht man schnell aus dem öffentlichen Fokus.

Hinzu kommt, dass wir in Art und Inhalt unserer Arbeit keine Hochglanzbilder aus der Kategorie „Wichtig“ bedienen. Diese sind von der Corporate-Business-Welt geprägt. Soloselbstständige oder kleine Kreativunternehmen werden hier oft nicht ernst genommen oder nicht als relevant eingestuft.

Aber wir sind wichtig. Sehr wichtig – aus einer ganzen Reihe an Gründen.

Was ist überhaupt eine Krise

Eines vorneweg: Eine Krise hat viele Gesichter. Die derzeit offensichtlichsten sind Krankheit und Krieg. Aber auch Strukturwandel, Wirtschafts- oder Finanzkrisen gehören dazu. Ebenso können Unterdrückung, Rassismus oder beispielsweise alte Wunden der Kolonialzeit zu regionalen Krisen führen. Krisen können selbst- oder fremdverschuldet sein, oder einfach Pech. Sie können einen Einzelnen oder die ganze Welt treffen. Sie können das Leben bedrohen oder versauen.
Krisen können Landstriche ins Kippen bringen und Regionen den wirtschaftlichen und sozialen Boden unter den Füßen wegziehen.

Krise kann ein sehr lang anhaltender Zustand sein, der nicht immer mit einem Donnerschlag kommt. Krise muss auch nicht existenzbedrohend sein. Aber sie hat meist weitreichende Folgen für das Leben „danach“.

Das ist der Punkt, an dem die Kreativwirtschaft ins Spiel kommt.

4 Beispiele wie die Kreativwirtschaft in Krisenzeiten wichtig ist

1. Heidelberg Project Detroit, USA

Als der Künstler Tyree Gyton an den Ort seiner Kindheit zurückkehrte, war von diesem nicht mehr viel übrig. Wirtschaftliche Turbulenzen, soziale Unruhen und ein riesiges Drogenproblem schienen den Niedergang der Gegend um die Heidelberg Street in Detroit besiegelt zu haben.

Aber Gyton wollte nicht tatenlos zusehen, wie seine alte Heimat den Bach runterging. Mit der Hilfe seines Großvaters und einiger Nachbarskinder begann er, Brachflächen in der Straße aufzuräumen. Mit dem gesammelten Schrott und Müll transformierte Guyton die Straße in einen riesigen Kunstplatz. Aus leeren Grundstücken wurden “Kunststücke” und verlassene Häuser wurden in riesige Skulpturen verwandelt. All dies begann in den späten 1980-Jahren und nicht jeder der verstand oder schätzte diese spezielle Form von politischem Protest und Bewusstseinsschaffung.

© Tina Eberhardt

Heute genießt das „Heidelberg Project“ international Anerkennung als öffentliche Kunstinstallation. Es gilt als Beispiel dafür, wie Kunst als heilendes und belebendes Element in der Quartiersentwicklung eingesetzt werden kann. Auf der Liste der meistbesuchten Orte Detroits liegt das Heidelberg Project mittlerweile an dritter Stelle und ist längst ein Motor in der touristischen Entwicklung der Metropole.

Vor allem ist das Heidelberg Project eine Inspirationsquelle, wenn man mutlos dasitzt und sich fragt: „Was kann ich alleine schon tun?“

Oder wie die Plattform URBAN HUB zusammenfasst: „Tyree Guyton’s Heidelberg Project hat Menschen dazu inspiriert, ihr Schicksal in die eigenen Hände zu nehmen. Insbesondere da, wo Aktivitäten der Kommunalverwaltung unzureichend oder nicht existent waren.“ [eigene Übersetzung]

Tyree Guyton hat ein einzigartiges und cooles Künstlerquartier geschaffen. Aber vor allem hat er Menschen bestärkt, selbst wieder Leben, Perspektive und Wert in Problemviertel zu bringen. Er hat bewiesen, dass jeder einzelne von uns Initiative ergreifen und einen Unterschied machen kann.

2. Metrocable Caracas, Venezuela

Jahrzehntelang sahen die Mechanismen städtebaulicher Entwicklung ungefähr so aus: Gab es ein Problem, holte man eine Planierraupe und löste die Sache mit einer Ladung Beton. Von da an ging es oft abwärts für diejenigen, die bei der Problemlösung im Weg waren. Allzu häufig waren dies die armen und problemgebeutelten Viertel einer Region.

Dieser Tradition folgte auch die Stadtverwaltung von Caracas in Venezuela. Um das von Armut, Gewalt und Isolation gebeutelte Stadtviertel San Agustin besser an die Metropole anzubinden, schlug die Verwaltung eine neue Durchfahrtsstraße vor. Unglücklicherweise wäre diese mitten durch das Viertel verlaufen und hätte ungefähr ein Drittel der Häuser dem Erdboden gleichgemacht. Die Idee kam nicht gut an bei den Bewohnern.

© Fernando Gago

Ein Architekten-Team von Urban Think Tank wagte einen anderen Vorschlag: Eine Seilbahn, die direkt über das Viertel hinwegfährt und dieses mit dem Stadtzentrum verbindet, ohne Schaden anzurichten. Die Seilbahnstationen waren so konzipiert, dass sie eine soziale Funktion als Zentrum und Anlaufstelle für das Viertels erfüllen. Geplant waren Räumlichkeiten für Nachbarschaftstreffen und Nahversorgungsangebote wie ein Supermarkt oder ein Gesundheitszentrum.

Der Caracas Metrocable wurde schließlich von 2007 und 2010 gebaut. Letztendlich erfüllte das Projekt nicht alle Erwartungen und Zwecke. Aber es ist gelungen, die Lebensumstände der Menschen in dem ehemals abgehängten Teil der Stadt zu verbessern und ein neues Bewusstsein zu schaffen. Indem die Seilbahn direkt über San Agustin hinwegfährt, wurden das Viertel und seine Menschen sichtbar. Ein Nebeneffekt war, dass die Kriminalitätsrate spürbar nach unten ging.

Mir gefällt dieses Beispiel, denn es zeigt, wie Kreativwirtschaft und Kommunalentwicklung in den letzten zwei Jahrzehnten enger zusammengerückt sind. Um den Bedürfnissen einer stetig wachsenden Bevölkerung in einer immer komplexeren Welt gerecht zu werden, müssen wir anfangen, neue Denkansätze und Wege einzuschlagen.

Es braucht eine neue Form des Designs für unsere Städte und Siedlungen. Hier kommen wir ins Spiel. Auch wir Kreativen müssen bereit sein, uns in neuen Feldern und Problemstellungen zu engagieren. Die Kreativwirtschaft ist keine Sammlung unabhängiger Disziplinen, die in Kunst, Design, Gaming etc. vor sich hin wursteln.

Je komplexer und vernetzter unsere Welt und Gesellschaft werden, umso dringender werden unsere Kompetenzen benötigt. Wir müssen bereit sein, unsere kreativen Elfenbeintürme zu verlassen und unsere Fähigkeiten zur Verfügung zu stellen. Wir müssen unser Wirkungsfeld auf neue Aufgaben ausdehnen und neue Perspektiven bieten.

3. Resilience Study Fukushima, Japan

Beim Grübeln über die Verbindung von Kreativwirtschaft und Kommunalentwicklung bin ich auf ein interessantes Projekt gestoßen: “The creative reconstruction of Fukushima through a mille-feuille approach.”

Mehr als zehn Jahre nach der nuklearen Katastrophe von Fukushima ist die Region immer noch mit Wiederaufbau beschäftigt. Das Projekt, das von verschiedenen wissenschaftlichen Stellen begleitet wird, hat als Zielformulierung: „[to] cultivate human resources who can contribute to the creative reconstruction of Fukushima from the four perspectives of ‘creation of new industries,’ ‘information transmission,’ ‘regional revitalization,’ and ‘sustainable educational foundation.’”

Was für mich in der Beschreibung hervorsticht sind die Begriffe “creative” (kreativ) und “mille-feuille approach” (Mille-Feuille-Ansatz).

Kreativ umschreibt den Einsatz von Kenntnissen und Vorstellungskraft, um etwas Neues hervorzubringen. Mille-Feuille im wörtlichen Sinne bedeutet “Tausend Schichten”. Es ist außerdem der Titel eines unheimlich leckeren französischen Gebäckstücks, wo Schichten aus Blätterteig und Vanillecreme aufeinandergestapelt werden.

Setzt man also die beiden Begriffe zusammen, sähe ein kreativer Mille-Feuille-Ansatz so aus: Man bringt viele verschiedene Menschen und Kompetenzen auf verschiedenen Ebenen zusammen, um daraus neue Visionen für den Wiederaufbau der Region Fukushima zu entwickeln. Tatsächlich heißt es in der Projektbeschreibung auch: “We define ‘mille-feuille human resources’ as those who have acquired multilayered knowledge and skills.”

In dem Projekt arbeiten Menschen aus Kultur, Bildung und Wissenschaft zusammen. Sie veranstalten Workshops, Seminare, öffentliche Vorlesungen und Feldstudien. Die kommunale Verwaltung und regionale Firmen sind ebenfalls eingebunden. Das Projekt möchte zudem auch touristische Ressourcen weiterentwickeln und die Digitalisierung voranbringen.

Was nehmen wir also daraus mit?

Für mich zeigt die Fukushima Resilience Study: Kreativität und Kreativwirtschaft spielen eine wichtige Rolle, wenn es um Krisenbewältigung geht. Nicht nur aufgrund dessen WAS wir tun, sondern vor allem WIE wir es tun. Dieses Projekt adaptiert den Modus Operandi, den wesentlichen Bestandteil der Kreativwirtschaft, und wendet ihn zur Wiederbelebung einer katastrophenbetroffenen Region an.

Dies zeigt, dass wir mit unserer Arbeit, unserer Herangehensweise, unseren Handlungsgrundsätzen nicht nur Neues erschaffen, sondern auch Resilienz aufbauen können. In einer Welt, in der das Streben nach Nachhaltigkeit und Stabilität immer stärker wird, ist dies ein immens wichtiger Faktor.

© Meriç Dağlıı

4. Kreativwirtschaft in Kriegszeiten, Ukraine

Ich habe dieses Beispiel ans Ende gestellt, weil ich glaube, dass die ukrainischen Kreativschaffenden in einigen Jahren viele der oben genannten Herausforderungen zu bewältigen haben. Im Moment haben die Kreativen in der Ukraine jedoch sehr viel konkretere Probleme: Physisches und mentales Überleben angesichts von Tod und Zerstörung.

Die Bedeutung der Kreativwirtschaft zeigt sich hier täglich. Die Welt würde keine Nachrichten und Informationen erhalten ohne die couragierte Arbeit der Journalisten und Kameraleute vor Ort. Künstler helfen den Menschen beim Durchhalten, indem sie in den Schutzbunkern Stand-up-Vorstellungen geben. Die Liste der Beispiele ließe sich wahrscheinlich noch lange fortsetzen.

Im März 2022 erregte die ukrainische Kreativwirtschaft mit etwas anderem Aufmerksamkeit: Eine Gruppe Kreativschaffender sammelte Tonaufnahmen von alltäglichen Kriegsgeräuschen – Schreie, Explosionen, Luftangriffe. Zusammen mit Musikproduzent Roger Leo stellten sie daraus einen Soundtrack zusammen, den sie “Anthem of true Russia” nannten.

Beim Anhören war ich zwiegespalten. Technisch ist der Clip gut gemacht. Er schafft einen beklemmenden Eindruck davon, was gerade in der Ukraine vor sich geht. Kreativität wird hier genutzt, um etwas Abstraktes wie einen Krieg in einem entfernten Land in etwas erschreckend Greifbares zu verwandeln. Auf der anderen Seite zeichnet der Clip natürlich ein verzerrtes Bild, wenn im Untertitel steht: “These are sounds of the aggressor. This is how Russia, who invaded Ukraine, sounds. This is the anthem of true Russia.”

Gerade dieses einseitige Statement im Untertitel zeigt für mich aber die eigentliche Bedeutung dieses Projekts.

In den Youtube-Kommentaren [Stand April 2022] war in den Tagen danach viel Übles zu lesen. Aber zwischen den Hassbotschaften und Schuldzuweisungen war auch eine Art Dialog zu finden. Mehrere russische Kommentatoren brachten ihr Mitgefühl für die Ukraine zum Ausdruck. Einige verurteilten offen den russischen Angriff.
Andere wiesen darauf hin, dass die Handlungen einer Regierung nicht notwendigerweise der Meinung und Haltung des Volkes entsprechen. Sie kritisierten die einseitige Verurteilung der Russen in dem Video und baten um eine faire Differenzierung.

Man kann den ukrainischen Kreativschaffenden ihre Wortwahl nicht vorwerfen. Die Angst, der Schock und auch die Wut in den Menschen müssen irgendwo raus. Die einseitigen verurteilenden Sätze im Videotitel mögen nicht fair sein – sie zeigen schlicht menschliche Gefühle. Genauso verständlich ist, dass viele russische Kommentatoren nicht automatisch mit kriegsbegeisterten Putin-Cheerleadern über einen Kamm geschert werden wollen.

Social Media heizt mittlerweile immer öfter physische Gewalt an. Aber es könnte auch einen Ort bieten, an dem man von Waffen zurück zu Worten findet. Wo man daran erinnert wird, dass es auf dieser Welt keine klare Trennung zwischen Schwarz oder Weiß, Gut oder Böse gibt.

Für manche mag das weit hergeholt und naiv klingen. Aber irgendwie fühlt sich der Gedanke für mich ermutigend an.

Auf den Punkt gebracht

Veränderungen zum Besseren beginnen immer mit einem ersten kleinen Schritt. In der Kreativwirtschaft können wir gemeinsam einen großen Unterschied machen. Die UNESCO hat unsere Bedeutung 2021 zusammengefasst: „The creative economy has grown to become one of the great powerhouses of our times.”

Wie schon eingangs erwähnt: Die Wirkung unserer Arbeit entwickelt sich oft leise und im Laufe der Zeit. Aber sie ist immens wichtig, denn

  1. … wir verhelfen zu Selbstbefähigung und Heilung
  2. … wir lösen Blockaden und brechen veraltete Denkmuster auf
  3. … wir helfen bei Bewusstseinsbildung
  4. … wir stellen Plattformen bereit, auf denen Entwicklung angestoßen und neue Realitäten simuliert und diskutiert werden können
  5. … wir sind Innovationstreiber
  6. … wir generieren Nachhaltigkeit

Der britische Kulturberater Anthony Sargent schrieb 2021 in Bezug auf die Pandemie: “With the mysterious kinds of alchemy that crises can produce, good things have also happened.”

Ich mag dieses Statement. Es fasst unsere Arbeit zusammen. Die Kreativwirtschaft ist wichtig, denn wir lassen Gutes entstehen.

Nehmt das als Ermutigung. Geht und tut Gutes!


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