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Als im Frühjahr 2020 plötzlich die Welt stillstand, geschah etwas Ungewohntes: Man hatte wieder Zeit. Zum Denken und Sinnieren, Reflektieren. Zeit, um die Spreu vom Weizen, das Wichtige vom Unwichtigen zu trennen. Wer sich während des Lock-Downs im Homeoffice mit der Familie wiederfand, lernte auch, Prioritäten und Zeitfenster neu zu definieren. Wir mussten umdenken.

Wir bewerten die Bedeutung einer Sache zu oft nach dem Maßstab der Zeit und Energie, die wir für sie aufwenden meint Autor Tim Ferris (Die 4 Stunden Woche). Wir verwechseln Aktionismus mit Produktivität. Wir verwechseln Ruhephasen mit Faulheit. Wir verlieren den Blick auf die wichtigste Ressource: Unsere Gesundheit und unsere physische wie mentale Leistungsfähigkeit.

We have been conditioned to think that high ambition must go with thrusting hyperactivity, long hours, ruthlessness, the sacrifice of self and others to the cause, and extreme busyness. In short, the rat race. But we pay dearly for this association of ideas. The combination is neither desirable nor necessary.

Richard Koch, The 80/20 Principle

Bis vor Kurzem galten in unserer Gesellschaft überlastungs- und stressbedingte Gesundheitsprobleme fast als Indiz für Tapferkeit und Überlegenheit. Als ob wir alle Top-Biathleten im Weltcup wären, die nach völliger Selbstverausgabung heroisch hinter der Ziellinie kollabieren.

Auszeit ist wichtig für die Kreativität

Zeit und Ruhe sind immens wichtig: „Der Mensch kann nicht überleben, geschweige denn gedeihen, wenn er nicht zwischen Phasen der Belastung und Erholung wechselt“, erklärt beispielsweise Tim Ferris.

Muskeln wie Ideen entwickeln sich in den Ruhephasen zwischen (kreativen) Leistungseinheiten. In einer Welt, in der Innovationspotenzial und Kreativität zu den wichtigsten Ressourcen werden sollten wir lernen, ein Klima zu entwickeln, in denen beides gedeihen kann. Erkenntnisse, Lösungen und Ideen kommen, wenn wir uns entspannt und wohl fühlen.

Julia Cameron (The Artist’s Way) nennt den kritischen Faktor zum Erhalt von Kreativität und Leistungsfähigkeit: Auszeit. Zeit, in der wir mal einfach nichts tun. Mußezeit.

Denn entgegen der landläufigen Meinung ist Zeit ausreichend vorhanden. Wir müssen jedoch lernen, den Wert von Auszeiten wieder wertzuschätzen.

Getrieben von Parkinsons Gesetz

Stellen Sie sich vor, Isaac Newton hätte sich 1660 nicht zum Nachdenken unter einen Apfelbaum gesetzt. Weil er damit hätte rechnen müssen, als faul und unprofessionell verspottet zu werden und seinen Ruf als ernstzunehmenden Wissenschaftler zu gefährden.

Er hätte nicht bemerkt, dass neben ihm ein Apfel zu Boden fiel. Er hätte nicht die Muße gehabt, über diesen banalen Vorgang zu sinnieren und daraus eine der bedeutendsten Erkenntnisse der Physik abzuleiten.

Jeder, der mal gesundheitlich angeschlagen war – sei es durch Erkrankung, Unfall oder andere Komplikationen – weiß, dass aufmerksame Krafteinteilung der Schlüssel ist, um baldmöglichst und stabil mit der Arbeit weitermachen zu können. Plötzlich kommt es nicht mehr darauf an, viele Dinge zu tun, sondern die richtigen und wichtigen Dinge zu tun.

Wenn wir unsere Zeit und Energie aber wie Konfetti, ohne Wertmaßstäbe und Prioritäten verteilen, gewinnen wir nichts. Wir bedienen nur Parkinsons Gesetz: Arbeit und Verwaltungsaufwand lassen sich wie Gummi dehnen, um die Zeit auszufüllen, die für sie zur Verfügung steht.

Zeit für einen neuen Blick auf die Welt

Corona war ein Schock für die Welt und hat viele Menschen in große Not gebracht. Existenzängste wurden plötzlich wieder sehr konkret, real und begründet. Nichts davon ist inspirierend.

Aber trotz aller ökonomischen Probleme, trotz der Sorge um das Wohlbefinden unserer Liebsten, trotz des Stresses, den die Unsicherheit der Pandemie mit sich gebracht haben, hat die Zeit des Lock-Downs auch Chancen mitgebracht: Uns des Wertes von Zeit und Auszeit wieder bewusst zu werden.

Wo es plötzlich keine Abend-Termine mehr gab, blieb zum Beispiel wieder Zeit zum Lesen. Als interessant hat sich unter anderem Hans Roslings Factfulness erwiesen, wenn man verstehen möchte, in welche Richtung sich die Welt verändern wird – und wie verdreht unser Blick auf sie ist.

Der Deutschlandfunk Kultur meinte: „Deutlich wird das schon an einer einfachen Frage: Inwieweit hat sich in den letzten 20 Jahren der Anteil extrem armer Menschen verändert? Hat er sich

  • a) fast verdoppelt
  • b) nicht verändert oder
  • c) deutlich mehr als halbiert?

Letzteres ist richtig.“ Wissen nur die meisten nicht.

Ob man jetzt Fakten und Bücher darüber mag, oder nicht – einer von Roslings Ansätzen ist spannend: Der 2017 verstorbene schwedische Gesundheitsforscher teilte die Welt nicht in Arm und Reich, sondern in vier Armuts- bzw. Wohlstands-Stufen auf und setzt diese in Kontext seines Heimatlands Schweden.

Das sieht dann – frei aus der englischen Originalausgabe übersetzt – etwa so aus:

  • Level 1: extreme Armut
    Der Startpunkt aller menschlichen Gesellschaften. Vergleichbar heute mit Lesotho oder Afghanistan, Level von Schweden um ca. 1800.

    Geschätzte Zahl der Menschen in dieser Gruppe: 1 Milliarde.
  • Level 2: Armut
    Vergleichbar heute mit Zambia oder Indien, Level von Schweden um ca. 1900.

    Geschätzte Zahl der Menschen in dieser Gruppe: 3 Milliarden.
  • Level 3: einfacher Wohlstand
    Vergleichbar heute mit Ägypten oder Malaysia, Level von Schweden um ca. 1950.

    Geschätzte Zahl der Menschen in dieser Gruppe: 3 Milliarden.
  • Level 4: hoher Wohlstand
    Wir heute in Nord- und Zentraleuropa sowie dem nordamerikanischen Kontinent.

    Geschätzte Zahl der Menschen in dieser Gruppe: 1 Milliarde.

Anna Rosling Rönnlund und das Team von Gapminder haben diese Aufteilung im Projekt „Dollarstreet“ auf https://www.gapminder.org/dollar-street/ veranschaulicht. Auf der Website können anhand fotografisch-dokumentarischer Familienporträts die Lebensrealität und der Lebensstandard verschiedener Einkommensstufen weltweit verglichen werden.

Man kann das mit Genuss einen Abend lang am Tablet durchspielen und stellt fest: Die materielle Lebenssituation von Menschen unserer Einkommensschicht sieht in Pakistan, Kanada oder Argentinien nicht viel anders aus als bei uns.

Aber warum ist das so bemerkenswert?

Gemeinsamkeiten schaffen Vertrauen

Mit Globalisierung, steigenden politischen Turbulenzen, Flüchtlingswellen und Pandemie zerfällt die Welt wieder in Arm und Reich – in Teile, die fliehen müssen und Teile, die sich hinter Zäunen abschotten.

Es ist unumstritten, dass wir ein ungesundes Machtgefälle in der Welt haben. Ebenso müssen wir ehrlich anerkennen, dass die Maßstäbe und Klassifizierungen, die wir in unserem Teil der Welt für den Rest anlegen oft weder neutral noch objektiv, fair oder auch nur zutreffend sind.

Begleitet wird diese Aufteilung der Welt zudem oft von einer unseligen Mischung aus Angst und Protektionismus. Beide Gefühle leiten schließlich unterschwellig unser Denken und unser Handeln – nicht nur privat, sondern auch in unserer Arbeit und in unseren fachlichen Entscheidungen.

Die Rezeption von Roslings Welteinteilung bringt hier einen angenehmen Effekt: Sie schafft Gemeinsamkeiten und Vertrautheit.

Wenn ich sehe, dass die Küchenausstattung und der Garageninhalt bei einer Familie eines anderen Kulturkreises gleich aussehen, wie der meinige, dann wirkt mir die andere Familie und Kultur nicht mehr so fremd. Was nicht mehr fremd wirkt, verliert an Bedrohlichkeit. Wenn ich mich nicht bedroht fühle, muss ich mich nicht schützen und Grenzen hochziehen – und sei es auch nur in der inneren Haltung.

Blick auf Gemeinsamkeiten statt auf Trennendes

Ergänzt wurde dieser Gedankengang hervorragend vom Corona-Not-Programm der öffentlich-rechtlichen TV-Sender. Diese haben während des Lock-Downs im Frühjahr 2020 täglich eine „Sendung mit der Maus“ ausgestrahlt. Darunter auch Spezialausgaben mit Besuchen in Indien, Brasilien, Südafrika, Japan, Polen, Dänemark und anderen Ländern[1].

Hier zeigte sich ebenfalls: Das Leben in Schwellenländern hat oft mehr Gemeinsamkeiten als Unterschiede mit dem unsrigen. Die Menschen haben ähnliche Träume und Ziele, ihr Alltag und Lebensstandard ist nicht selten mit dem unserer Großeltern vergleichbar.

Es ist eine schöne Art, unseren Kindern und Enkeln die Vielseitigkeit der Welt zu zeigen und ihnen zu veranschaulichen, dass Menschen anderer und ärmerer Kulturen nicht automatisch eine Bedrohung unserer Sicherheit und unseres Lebensstandards sind. Man muss nicht mehr fürchten, was einem selbst gar nicht so fremd ist. Egal ob das andere aus Brasilien oder aus Baden-Württemberg kommt.

Zeit für ein neues Wertesystem

Um unseren und möglichst vielen anderen Kindern ein gutes und prosperierendes Leben zu ermöglichen, müssen wir aber unsere Zukunftsgestaltung und unsere Betrachtung der Welt überdenken.

Das ewige Wachstumsstreben hat sich überholt – die Gestaltung von Nachhaltigkeit gewinnt an Bedeutung. Wir können es Schwellenländern nicht verbieten, ebenfalls nach einem Stück des Wohlstandskuchens zu streben, auch sie haben ein menschliches Anrecht darauf.

Aber damit der Wohlstandskuchen für alle – auch für uns – weiterhin reicht, brauchen wir ein neues Wertesystem und einen neuen Umgang mit Ressourcen. Und wir können hier in unserem regionalen Umfeld und Handeln einen Anfang machen. Wir alle sind bedeutsam genug, um in unserer Arbeit einen Unterschied zu machen.

Raum für Optimismus

Wir sollten von unserer Absturz-Angst wegkommen. Von Level 4 ist die Fallhöhe zwar hoch, der Weg nach unten aber auch sehr weit und bei uns durch viele soziale, politische und ökonomische Fallnetze gesichert.

Wenn wir das nicht glauben, dann hilft vielleicht ein Blick auf die eigene oder die Kindheit unserer Eltern. Der materielle Lebensstandard und die soziale Sicherheit waren dort wahrscheinlich noch deutlich geringer als heute. Aber war das Leben schlechter? Vermutlich eher nicht. Im Gegenteil. Unsere Elterngeneration hatte Freizeit und Feierabend. Wir haben heute Smartphones, Selbstoptimierungsprogramme und Coaches. Was klingt weniger ansprechend?

Es täte uns gut, der Entwicklung von Optimismus wieder Raum und Wertschätzung beizumessen und den Blick auf Chancen, statt auf Risiken zu lenken. Wir könnten alle wieder mehr Lust und Mut zur Zukunftsgestaltung vertragen. Das beginnt in der lokalen Diskussionskultur und der Art wie wir alle diese in unserer Arbeit lenken und prägen.

Arbeit als Erfüllung denn als Aktionismus

Noch wissen wir nicht, wann wieder in eine Form von Normalität zurückkehrt. Aber es täte uns gut, nicht wieder in unsere alten aktionistischen Arbeits- und Reaktionsmuster zu verfallen.

Arbeit ist eine ur-natürliche Tätigkeit, die unsere innersten Bedürfnisse nach Sinn, Erfüllung und Selbstständigkeit bedient. Dem legendären französischen Kardinal Richelieu wird folgender Satz zugeschrieben: „[…] durch sie erhält das Allgemeinwohl seine wahre Festigung […].“ (aus Emblema Animae).

Doch es gibt einen Unterschied zwischen Quantität und Qualität der Arbeit. Wir sollten die Erfahrungen des Lock-Downs nutzen, um Zeit wieder als Gut zu schätzen, dass man nicht schnellstmöglich in irgendwas investieren, sondern achtsam handhaben sollte.

Zeit ist genug vorhanden, wir müssen sie nur konstruktiv nutzen.

Und in scheinbar einfachen, anspruchslosen und sinnfreien Tätigkeiten können bereichernde Erkenntnisse schlummern. Wir sollten viel häufiger einfach eine Auszeit unter einem Baum nehmen, oder mit unseren Kindern die Sendung mit der Maus anschauen.

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Zitierte Publikationen und Autoren

  • Ferriss, Timothy (2015): Die 4-Stunden-Woche. Berlin.
  • Kinkel, Tanja (1996): Die Schatten von La Rochelle. München.
  • Koch, Richard (2017): The 80-20-Principle. London und Boston.
  • Rosling, Hans/Rosling, Ola/Rosling Rönnlund Anna (2018): Factfulness. Ten reasons we’re wrong about the world – and why things are better than you think. London.

[1] Abrufbar unter https://www.wdrmaus.de/filme/sachgeschichten/index.php5