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2014 schrieb Michael O. Cooper über die 8 Reasons Why Creatives Will Rule the World. Neun Jahre später sieht es damit im Innovationsland Deutschland immer noch mau aus. Warum? Weil Deutschland eine Industrienation ist und weil die Industrie hierzulande nicht glaubt, dass die Kreativwirtschaft Antworten auf ihre drängenden Fragen hat.
Doch obwohl sie es noch nicht so sehen mag: Die Industrie braucht Kreativwirtschaft.
Deutschlands Position an der wirtschaftlichen Weltspitze bröckelt. Unsere auf Sicherheit und Beständigkeit angelegten Systeme, Denk- und Arbeitsweisen greifen in einer komplexen, volatilen und hochdynamischen Welt nicht mehr richtig.
Institutionen wie der Bundesverband der Deutschen Industrie (BDI) sprechen nicht mehr mit unerschütterlichem Selbstbewusstsein davon, was wir sind, sondern was wir hoffen, zu bleiben: Innovationsland, Exportland und vor allem weltweit wettbewerbsfähig.
Auf der Suche nach Wegen und Ansätzen werden meist ähnliche Faktoren aufgezählt:
- es braucht Innovationen und Erfindungsreichtum
- es braucht Freiraum für die Entwicklung neuer Lösungen
- die Chancen der Digitalisierung müssen genutzt werden
Unterm Strich klingen diese Lösungsansätze sehr wie eine Charakterbeschreibung unserer Branche.
Das Suchprofil der Industrie ruft: „Kreativwirtschaft“.
Inhaltsverzeichnis
Welchen Mehrwert liefert Kreativwirtschaft der Industrie?
In der Kreativwirtschaft können wir mit Selbstbewusstsein sagen: Wir entwickeln Antworten zu Fragen, auf die noch keiner gekommen ist. Wir arbeiten an Lösungen, deren Probleme noch gar nicht klar abgrenzbar sind. Wir machen Angebote für Märkte, die erst noch entstehen.
„Die Kultur- und Kreativwirtschaft verbindet traditionelle Wirtschaftsbereiche, neue Technologien und moderne Informations- und Kommunikationsformen“, schreibt selbst das Bundesministerium für Wirtschaft und Klimaschutz.
Aber was heißt das genau? Ich fasse es so zusammen:
In der Kreativwirtschaft wird Wandel nicht gefürchtet, sondern gestaltet.
Das macht uns innovativ. Das macht uns resilient. Dadurch gelingt es uns, die Chancen von Herausforderungen und Möglichkeitsräumen aufzugreifen.
Genau deshalb sage ich: Die Industrie braucht Kreativwirtschaft.
Das Problem: Die Kompetenz der Kreativwirtschaft ist für die Industrie schwer erkennbar.
In der Kreativwirtschaft arbeiten und wirken wir auf eine Weise, die für unsere tradierte Industrie schwer erkennbar und lesbar ist.
Wir sind eine fremde Kultur, denn:
- Wir entwickeln Innovationen und Lösungen nicht in Task-Forces und Meetings, sondern durch Kreativitätstechniken wie Design Thinking, Scamper, Gamification und anderen, nach außen oft improvisiert anmutenden, Tools.
- Wissen wird bei uns nicht schützend akkumuliert und taktisch portioniert, sondern wie Samen gestreut, um Wachstum an vielen Stellen zu stimulieren.
- Wir arbeiten mit Prozessen die diffuse Namen tragen wie Cross Innovation, Soft Innovation und Creative Impact.
- Zukunft ist für uns nicht das Bett des Prokrustes, in das wir unsere bisherigen Strukturen reinzwingen wollen, sondern ein großer Möglichkeitsraum zur Entwicklung neuer Prozesse und Geschäftsmodelle.
(Das Wirtschaftsforschungsunternehmen Prognos hat die Punkte in einem Themenbeitrag zur Branche angerissen).
Wir interessieren uns weniger für die Glorie der Vergangenheit als für die Potenziale der Zukunft, doch genau damit wirken wir für die Industrie oft sonderbar und abwegig.
Oft übersehen: Kreativwirtschaft arbeitet im Geist der großen Industriellen und Erfinder
In der Kreativwirtschaft implementieren wir Ideen unabhängig von Rentabilitätsstudien. Wenn wir Potenzial sehen, überlegen wir nicht lange, ob eine Idee in irgendein aktuelles Portfolio passt. Wir agieren nach dem Motto: „Einfach mal machen – könnte ja gut werden.
Dieser Ansatz unterscheidet sich stark von den Funktionsweisen der zeitgenössischen Industrie und hat so der Kreativwirtschaft zu ihrem Alien-Status verholfen.
Eigentlich ist das kurios, denn tatsächlich folgen wir mit unserer Arbeitsweise den großen Erfindern und Unternehmern, die den Siegeszug der Industrie überhaupt erst möglich gemacht haben.
Vor bald 100 Jahren sagte einer von ihnen:
Wenn ich die Leute gefragt hätte, was sie wollen, hätten sie gesagt: »schnellere Pferde«.
Henry ford
In der Kreativwirtschaft entwickeln wir die Utopien, die Innovationen befeuern.
Wir realisieren Ideen unabhängig von Rentabilitätsstudien und schaffen so Grundlagenarbeit für die industriellen Stars und Cash-Cows von Morgen.
Wir liefern das kreative Futter für die Entwicklung von nachhaltigen Produkt-Portfolios.
Niemand hatte Henry Ford nach einem Auto gefragt und keine Marktstudie hat Steve Jobs ein Erfolgsversprechen für sein iPhone gegeben (es heißt, Steve Jobs habe nie Marktforschung betrieben).
In Brandenburg produziert und vertreibt das Unternehmen Performance Electrics gGmbH Strom, der durch und mit Kunst produziert wird. Das klingt schräg und nach Utopie – aber vielleicht schlummert in dieser Utopie ein Meilenstein der Energiewende?
Was ich glaube:
Unsere unterschiedliche Auffassung von Wandel ist ein Knackpunkt im Verhältnis von Industrie und Kreativwirtschaft.
Wir brauchen eine Annäherung von Industrie und Kreativwirtschaft
In der Kreativwirtschaft sehen wir Wandel als Chance, als Wachstumstreiber und als Zündfunke zur Entwicklung von Visionen.
Bei der Industrie habe ich mittlerweile den Eindruck, dass Wandel eher als Bedrohung wahrgenommen wird, dem man mit grimmiger Entschlossenheit begegnen muss. Wer das anders sieht, gilt als naiv, hat keine Ahnung, bringt nichts Sinnvolles auf den Tisch.
Die traurige Ironie: Dank ihrer hoch erfolgreichen und innovativen Vergangenheit hält sich die Industrie für den wahren Kreativkopf der Wirtschaftswelt.
Man kommt gar nicht auf die Idee, mit der Kreativwirtschaft ins Gespräch zu gehen, da man uns nicht für jemanden hält, der in den großen Veränderungsprozessen tatsächlich wirksam und hilfreich sein kann.
Zwar wird versucht – ob bewusst oder unbewusst – unsere Methoden und Prozesse zu adaptieren, doch man tut dies, ohne uns zu konsultieren. Im Grunde wird so Zeit damit verschwendet, Leistungen, welche die Kreativbranche bereitstellen könnte, nochmal zu entwickeln.
Wer jetzt glaubt, das sei eine subjektive Situationsbewertung, muss nur Forscher fragen, die sich aktiv mit dem Thema Cross-Innovation zwischen Industrie und Kreativwirtschaft befassen.
Wir brauchen eine Annäherung von Industrie und Kreativwirtschaft.
Was kann die Kreativwirtschaft tun, um wahrgenommen zu werden?
Es ist sicherlich nicht ausreichend, wenn wir mantraartig schreien: „Industrie braucht Kreativwirtschaft“. Die Mauerblümchen-Rolle haben wir lange genug gespielt. Wenn wir Kreativschaffende wahrgenommen werden wollen, müssen wir aus der Hecke kommen:
- Wir müssen uns themenbezogen artikulieren und präsent werden.
- Wir müssen endlich anfangen, oft und öffentlich darüber zu reden, welchen Mehrwert die Kreativwirtschaft der Industrie bringt und warum wir in unseren Wurzeln gar nicht so weit voneinander entfernt sind.
- Wir müssen in das Gespräch mit Vertretern der Branche, der Politik, von Institutionen gehen.
- Wir müssen Themen und Vorschläge anbieten – zusammen, als Branche und nicht nur als Einzelakteure, die Kunden akquirieren.
Dafür müssen wir unsere Kräfte bündeln und dafür braucht es die Unterstützung unserer eigenen Branchenverbände, aber auch von Wirtschaftsforschungsunternehmen und der Wissenschaft.
Denn ich glaube, langsam scheint man auch in der Industrie zu merken, dass die bisherigen Wege nicht zum Ziel führen. Wenn der Bundesverband der Deutschen Industrie (BDI) erklärt, Deutschland müssen ein Zukunftsland werden (Merke: man sagt nicht mehr, dass wir es sind), sagt das viel aus.
Die Schlüsselbranchen unserer Wirtschaftsnation, allen voran die Industrie versuchen immer noch, ihre Kernherausforderungen exakt zu definieren (sind es die volatilen Prozesse, ist es der sich ändernde Markt, die Bürokratie, der Fachkräftemangel, …?). Gleichzeitig wissen sie nicht, aus welcher Richtung der nächste Windstoß kommt.
Wie wollen sie uns dann sagen, wo genau ihnen die Kreativwirtschaft helfen soll?
Genau in diesem Vakuum liegt unsere Chance.
Die Kreativwirtschaft hat die Kompetenz, Lösungen für Herausforderungen zu entwickeln, die noch gar nicht klar definiert sind. Deshalb braucht die Industrie Kreativwirtschaft.
Wir dürfen allerdings nicht warten, bis andere auf uns aufmerksam werden. Wir müssen anfangen, uns aktiv einzubringen.
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